Recruiting in der Coronakrise (Teil 1): Chance oder Risiko?
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Recruiting in der Coronakrise: Ist das eine Chance für Unternehmen oder in unwägbaren Zeiten nicht doch zu risikobehaftet? Von der schwersten Rezession in der Nachkriegsgeschichte ist die Rede. Der Arbeitsmarkt stehe stark unter Druck, konstatiert der Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt der Bundesagentur für Arbeit. Rückt damit die Personalgewinnung zwangsläufig in den Hintergrund?
„Rekrutieren Sie auf jeden Fall“, könnte unsere Antwort als HR-Dienstleister auf die Frage lauten. Ist sie aber nicht. Nicht, weil wir glauben, dass Recruiting momentan keinen Sinn macht. Das stimmt so nicht. Wir sind davon überzeugt, dass Unternehmen jeweils eine eigene Antwort auf die Frage finden müssen, ob Talente eingestellt werden können oder nicht.
Einen Masterplan gibt es nicht
Machen wir uns nichts vor: Wenn sich die Personalbedarfsplanung rapide ändert oder Kurzarbeit ein Thema ist, wartet ein Personaler nicht zwangsläufig auf den Anruf einer Agentur mit Vorschlägen zum Recruiting. Wird das Budget für die Personalgewinnung gekürzt, können jedoch Maßnahmen und Projekte sinnvoll angepasst oder sogar pausiert werden. Unsere Aufgabe muss demgemäß eine individuelle, faire Unterstützung und Beratung sein. Und wenn wir ehrlich sind, ändert sich damit eigentlich gar nicht so viel für uns. Denn das dürfen Kunden allemal erwarten. Aktuell braucht es einfach noch ein wenig mehr Fingerspitzengefühl.
Zugegebenermaßen stechen wir mit dieser Haltung nicht besonders heraus. Wir haben nicht die ultimative Anleitung, wie HR die Krise am besten bewältigen kann. Wir maßen uns nicht an, den Masterplan für HR in der Tasche zu haben. (Beziehungsweise müssten es wohl dann auch eher unzählige Pläne sein.) Dennoch zeigen wir für die aktuelle Lage Chancen sowie Möglichkeiten auf. Und natürlich auch für die Zeit danach – ganz nach Bedürfnis.
Unternehmen rekrutieren weiterhin
Es gibt Unternehmen, die auch in Krisenzeiten Personal gewinnen möchten. Stepstone listet nach eigenen Angaben insgesamt 51.126 Vakanzen (Stand: 11.05.2020). Bei Jobware sind es in Summe 24.361 Stellenangebote (Stand: 11.05.2020). Dabei kann es sich um neuere oder um verlängerte Ausschreibungen handeln, ohne das an dieser Stelle weiter zu differenzieren.
Grundsätzlich findet also Recruiting statt. Obgleich eine deutliche Zurückhaltung zu erkennen ist. Die Anzahl der Stellenausschreibungen ist im Zuge der Coronavirus-Pandemie deutlich zurückgegangen. Das merken wir natürlich anhand des Schaltungsverhaltens unserer Kunden. Konkrete Zahlen gibt es durch den Indeed-Job-Index, der die Entwicklung der Online-Stellenanzeigen auf Indeed kontinuierlich darlegt (weitere Infos unter hiringlab.org/de). Erfreulicherweise zeichnet sich ab, dass sich dieser Rückgang verlangsamt.
Wer rekrutiert aber in der angespannten Lage? Immerhin vermuteten im März noch 58 % der Befragten einer Blitzumfrage vom Institute for Competitive Recruiting (ICR), dass die Recruiting-Aktivitäten infolge der Krise insgesamt zurückgefahren werden. Wobei nur 46 % einen Rückgang für das eigene Unternehmen prognostizierten. Indeed hat die Entwicklung der Stellenausschreibungen nach Branchen und Unternehmensbereichen geclustert.
Spannend ist jedoch nicht nur die Frage, ob und warum rekrutiert wird, sondern ebenso wie. Hier geben die Deutschen Bahn und die Deutsche Telekom spannenden Insights.
Personalgewinnung bei der Deutschen Bahn: Die Offensive
Ein wohl sehr prominentes Beispiel für die Personalgewinnung in Zeiten von Corona ist die Deutsche Bahn. Die „Personaloffensive bei der DB geht trotz Corona-Krise weiter“ vermerkte die Deutsche Bahn in einer Pressemitteilung vom 5. April. Immerhin sollen im Zuge der Konzernstrategie „Starke Schiene“ in den nächsten Jahren 100.000 Kollegen rekrutiert werden.
25.000 Kandidaten suche man für 2020, erzählte Kerstin Wagner, Head of Talent Acquisition, kürzlich im Podcast von Henrik Zaborowski. Lässt die Krise die Deutsche Bahn kalt? Keineswegs. Doch sie setzt die Offensive im Sinne der Dachstrategie weiter fort. Um das ambitionierten Ziel zu erreichen, mussten Prozesse und Maßnahmen in der Kürze der Zeit an die neuen Gegebenheiten angepasst werden.
Recruiting in die virtuelle Welt verlagert
Vorstellungsgespräche laufen bei der Deutschen Bahn nun rein virtuell ab. Dabei ist die Rede von 6.000 Interviews im Monat. Gerade persönliche Begegnungen seien üblicherweise entscheidend für den Recruiting-Erfolg, erzählte Kerstin Wagner im Interview mit Sheconomy. Ein Rezept, das in Zeiten mit Kontaktverbot und Mindestabstand leider nicht wie gewohnt funktioniert. Deswegen wurden Alternativen geschaffen, um weiterhin detaillierte Einblicke geben zu können und einen regen Austausch zu ermöglichen – doch eben auf digitalem Wege.
Zur Anpassung der Prozesse und Neukonzeption der Maßnahmen gehört etwa die Umstellung der Recruiting-Events. Infotage und Mitarbeiter-Castings werden seit Kurzem ausschließlich virtuell absolviert. So war für den Tag des Quereinstiegs in Hessen ursprünglich eine Sonderzugfahrt geplant. Auf der Tour sollten sich Interessenten über Jobs wie Fahrdienstleiter, Zugbegleiter oder Lokführer informieren können. Stattdessen gab es eine Videokonferenz mit Dutzenden Teilnehmern.
Um dennoch die Interessenten möglichst nah ans Geschehen heranzuführen, wurde ein Film über das Eisenbahnbetriebsfeld in Darmstadt gedreht – einer Anlage, in der der tägliche Bahnbetrieb in Miniatur simuliert wird. So sollten sie einen anschaulichen Eindruck von einem Stellwerk und der Tätigkeit eines Fahrdienstleiters erhalten.
Live-Webinare und Videochats sind wichtige Touchpoints
Nähe und Transparenz zu schaffen, erhofft sich die Deutsche Bahn des Weiteren durch digitale Formate wie den ExpertenTalk@DB. Die Live-Webinarreihe soll einen authentischen Blick hinter die Kulisse gewähren. Die DB lädt Interessenten ein, mit Experten zu diskutieren und somit Teil der „ExpertenTalk@DB“-Community zu werden.
Sei beim online ExpertenTalk@DB dabei und erhalte einen Einblick in die Umsetzung der #BIM-Methode bei der Deutschen Bahn. In einer offenen Diskussion haben alle teilnehmenden Expert*innen die Chance ihr Wissen zu teilen. Let‘s talk: https://t.co/tZYdb3lV1x #talk #event #vortrag pic.twitter.com/WgwjuRQZLK
— DB Karriere (@DBKarriere) May 4, 2020
Einen direkten Austausch wünscht sie sich weiterhin durch die Vortragsreihe „Frag die Führungskraft“. Per Videochat gibt es Einblicke in die verschiedenen Berufe und Einstiegsmöglichkeiten sowie Antworten von den verantwortlichen Führungskräften.
Tausche Dich live bei “Frag die Führungskraft” zu unseren verschiedenen Einstiegsmöglichkeiten mit der verantwortlichen Führungskraft aus. Erhalte direkt via Video-Chat Antworten auf all Deine Fragen: https://t.co/NlDkdQ24Rg #job #beruf #deutschebahn pic.twitter.com/EAZERceqWq
— DB Karriere (@DBKarriere) April 27, 2020
Man merkt schnell: Corona mag die Distanz und ein Umdenken erzwingen. Dennoch versuchen Unternehmen wie die Deutsche Bahn, durch digitale Lösungen und Formate eine gewisse Nähe und den unmittelbaren Austausch aufrechtzuerhalten. Ähnliches gilt auch für die Deutsche Telekom.
Recruiting bei der Deutschen Telekom mit „virtueller Empathie“
Das Telekommunikationsunternehmen hat alle Abläufe komplett digitalisiert und dies sogar zur Maßgabe gemacht, erklärte Ute Neher. Sie ist Head of Global Talent Aquisition bei der Deutschen Telekom und gab ebenfalls im Podcast mit Henrik Zaborowski Insights in das Recruiting des Konzerns. „Nur wer im Konzern bereit ist, virtuell einzustellen, bekommt Kandidaten.“ Diese Erwartungshaltung gilt genauso für die Talente. Sie müssen sich an die neuen Gegebenheiten anpassen. Wer auf ein reales Kennenlernen vis-a-vis nicht verzichten kann, muss warten.
Das neue Miteinander: Unsicherheiten abbauen und digitale Nähe schaffen
Damit die Hürden für das virtuelle Recruiting bei Verantwortlichen und Bewerbern möglichst gering sind, wird geschaut, was konkret gebraucht wird. Ute Neher formuliert den Begriff „virtuelle Empathie“. Jedes Teammitglied soll seine Aufgabe im Rahmen der Gegebenheiten gut machen können. Auch Talenten sollen Berührungsängste genommen werden. Ein kurzer Technikcheck im Vorfeld des virtuellen Jobinterviews vermittelt dem Bewerber Sicherheit. Schließlich geht es auch in Präsenzinterviews darum, sich möglichst wohlzufühlen, betont die Leiterin des Recruitings im Podcast.
Es reicht eben nicht nur, neue Prozesse und Maßnahmen zu definieren und auf eine erfolgreiche Anwendung zu hoffen. Um die Pläne erfolgreich in die Tat umzusetzen, müssen Bewerber sowie Hiring Manager und Recruiter abgeholt werden. Quasi mit einem How-to: Wie funktioniert das „neue“ Recruiting? Das hat sich ebenfalls die Deutsche Bahn zur Aufgabe gemacht. Sie versucht mit einem Leitfaden für die Techniknutzung, Trainings über interne Netzwerke sowie einer Anleitung für die Bewerber Unsicherheiten und Ängste abzubauen.
Doch zurück zur Telekom. Wer Personal gewinnen möchte, muss dies nach außen kommunizieren. Und am besten direkt vermitteln, warum das Arbeiten in diesem Unternehmen so besonders ist. Unter dem Hashtag #IWILLNOTSTOP stellen Telekom-Mitarbeitende ihre Jobs und Arbeitsfelder vor. Sie werden zu Botschaftern für die Vielfalt, Werte und Überzeugungen. Zugleich beantworten sie damit schon die ersten potenziellen Fragen von Interessenten.
Die Kampagne ist nicht neu. Sie gab es schon vor Corona, wird aber offensichtlich kontinuierlich weitergeführt. Einblicke gibt es beispielsweise auf der Karriereseite oder als Videos bei LinkedIn.
Beispiel: WESTPRESS
Nun sind die Deutsche Bahn und die Deutsche Telekom natürlich Big Player. Da mag es schwerfallen, Parallelen zu erkennen oder sogar Ideen zu adaptieren, weil die Mittel nicht im Ansatz vergleichbar sind. Schauen wir also gar nicht so weit. Oder besser in den Spiegel. Auch wir suchen aktuell Verstärkung – trotz Corona.
Corona beeinflusst die Personalbedarfsplanung
Unsere Agentur ist mit 170 Personen an Bord ein mittelständisches Unternehmen. Wir bekommen die Auswirkungen von Corona wie viele andere zu spüren. Die Pandemie nimmt auf Teilbereiche unseres Agenturgeschäfts großen Einfluss. Dennoch rekrutieren wir. Dabei handelt es sich um Positionen, die kurzfristig besetzt werden sollen. Klar ist: Wir möchten weiterhin gut aufgestellt sein.
Dabei heißt „kurzfristig einstellen“ nicht, dass die Stelle nur kurzfristig besetzt sein soll. Es werden Talente gesucht, die das Team langfristig unterstützen möchten. Gab es Vakanzen, bei denen die Möglichkeit einer langfristigen Zusammenarbeit durch die Krisensituation nicht zu gewährleisten war, wurden diese zurückgestellt.
Der Wunsch nach Sicherheit ist groß
Warum gehen wir so vor? Der Wunsch nach Sicherheit ist groß – bei Unternehmen, bei Mitarbeitenden und Jobsuchenden. Wir versuchen unseren Teams transparent zu vermitteln, wie wir die Krise meistern. Alles andere könnte Ängste oder Unsicherheiten in den Teams schüren oder verstärken.
Wie gehen wir vor? Mit Bedacht und Vorsicht, aber auch mit Weitblick. Wir machen keine großen Sprünge, lassen aber die Zukunft nicht aus dem Blick. Deswegen sind für bestimmte Bereiche Einstellungen weiterhin wichtig. Andere werden pausiert.
Wie gehen wir derzeit mit Bewerbern um? Die Talente werden direkt im Jobposting darauf aufmerksam gemacht, dass wir aufgrund der Pandemie präventive Maßnahmen ergriffen haben. Um sie und unser Team zu schützen. Bewerbungsgespräche finden deswegen telefonisch oder per Videochat statt. Zudem weisen wir darauf hin, dass bestimmte Positionen vom Homeoffice aus arbeiten werden, bis die präventiven Maßnahmen wieder deutlich gelockert werden können. Es ist schließlich das gute Recht der Talente zu wissen,
- wie ein Unternehmen mit der aktuellen Lage umgeht.
- wie das Vorstellungsgespräch unter ggf. neuen Bedingungen ablaufen wird.
- wie und wo sie in dieser Ausnahmesituation arbeiten werden.
Fazit: Chance oder Risiko?
Kommen wir nun zurück zur Ausgangsfrage: Ist das Recruiting in der Coronakrise eine Chance für Unternehmen oder in unwägbaren Zeiten zu risikobehaftet? Sie kennen mittlerweile die Antwort. Nämlich, dass es keine allgemeingültige gibt.
Die Personalgewinnung hat sich während der COVID-19-Pandemie spürbar verändert. Die Zurückhaltung und Unsicherheiten sind bei Arbeitgebern und bei Kandidaten groß. Das spiegelt sich zum einen in den Recruiting-Aktivitäten der Unternehmen wider. Zum anderen gehen die Bewerbungszahlen seit dem Lockdown zurück. Das stellen sowohl die Deutsche Bahn als auch die Deutsche Telekom fest. Ein Jobwechsel mag einigen Talenten in diesen unwägbaren Zeiten zu unsicher sein.
Andererseits können Kurzarbeit, Kündigungen oder die Situation für Freelancer und Selbstständige dazu führen, dass ein Jobwechsel für einige Talente gerade jetzt die richtige Lösung ist. Derart können Sie Kandidaten gewinnen, die vor der COVID-19-Pandemie nicht zur Verfügung gestanden hätten. Wichtig ist, dass Sie markieren, dass in der Krise Verstärkung gesucht wird: etwa in der Stellenanzeige, auf der Karriere-Website oder in den sozialen Netzwerken.
Wir wissen nicht, wie lange uns Corona noch in Atem halten wird. Ein Shutdown im Recruiting kann jedoch dazu führen, dass wichtige Fachkräfte nach der Krise fehlen. Das kann und wird großen Einfluss auf die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit von Unternehmen haben.
Fragen Sie sich, wie nachhaltig Sie Ihr Recruiting gestalten möchten:
- Wie entwickeln sich die Bereiche perspektivisch?
- Sind die vakanten Positionen kurz-, mittel- oder langfristig angedacht?
- Inwiefern nimmt die Pandemie Einfluss auf diese Planung?
Definieren Sie zudem:
- Was braucht es momentan für das Recruiting?
- Wie können Sie sich intern darauf vorbereiten und wie möchten Sie Bewerbern entgegenkommen?
Möglicherweise helfen Ihnen unsere Fragestellungen und Gedanken, um zu entscheiden, welche Antwort für Ihr Unternehmen die richtige sein könnte.
Hinweis: Obgleich in diesem Beitrag nicht immer geschlechtsneutrale Formulierungen verwendet werden bzw. Schreibweisen, die die Gleichstellung der Geschlechter zum Ausdruck bringen, sind natürlich Männer und Frauen sowie Intersexuelle gleichermaßen gemeint.
Autorin: Tina Schwarze
Titelbild: Unsplash: © Paulo Silva
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