Führung oder Leadership: Was müssen Führungskräfte heute leisten?
Hallo René, wie es momentan gar nicht mehr so unüblich ist, haben wir beide uns auf digitalem Wege kennenlernen dürfen und die Neugierde war entfacht. Dein Steckenpferd ist das Transformationsmanagement. Sprich, du begleitest Organisationen und Menschen dabei, Change-Prozesse zu planen und zielsicher umzusetzen. Das mag in manchen Ohren vielleicht zunächst sehr abstrakt klingen.
Magst du dich selbst und deine Tätigkeit kurz vorstellen?
Na, klar – gerne. Mein Name ist René Lönnecker. Seit circa 20 Jahren arbeite ich für unterschiedliche Unternehmen als Berater, Trainer, Coach oder auch Interims-Führungskraft. Meine Aufgabe ist es, die „Welt“ der Führungskräfte mithilfe von Modell und Methode überschaubarer zu machen, damit Menschen zufriedener und Unternehmen erfolgreicher werden.
Das hört sich ausgesprochen spannend an. In Anbetracht der letzten Monate dürfte es allerdings gar nicht so einfach sein, diese Ziele zu erreichen, oder? Arbeit musste vielerorts neu organisiert und gedacht werden. Es hat sich in sehr kurzer Zeit sehr vieles verändert. Insbesondere Führungskräften kam und kommt dabei noch immer eine Schlüsselrolle zu. Wie nimmst du diese besondere Herausforderung wahr?
Wir erleben derzeit eine Phase, in der Unternehmen durch die Pandemie gezwungen sind, deutliche Restriktionen hinzunehmen. Ich mache das mal exemplarisch an drei Punkten fest:
- Wir arbeiten unter Unsicherheit: Wir wissen noch weniger als sonst, wie sich die nächsten Monate entwickeln werden.
- Wir arbeiten unter Druck: Finanzieller Druck, denn die Einschränkungen wirken sich auf die Auftragslage und die Gewinnspanne aus. Hinzukommt Kurzarbeitergeld und individuelle Entlohnung. Vergessen wir zugleich nicht den emotionalen Druck. Denn im Homeoffice müssen Arbeit, Partnerschaft, Familie und Haushalt parallel berücksichtigt und organisiert werden.
- Wir arbeiten auf Distanz: In virtuellen Teams und das mit Technik sowie Prozessen, die wir von heute auf morgen eingeführt haben.
Für mich lautet die zentrale Frage demgemäß: Wie können Mitarbeitende über Führung oder Leadership in diesen drei Herausforderungen unterstützt werden?
Bevor wir gemeinsam weiter einsteigen: Du sprichst von Führung oder Leadership. Kannst du uns sagen, inwiefern da unterschieden wird? Beziehungsweise wie du differenzierst?
Führung mag zunächst der gängigere Begriff sein. Professor Steinle definierte es damals an der Universität Hannover in seinen Vorlesungen immer als „zielorientierte Verhaltensbeeinflussung“. Es geht bei Führung also darum, die definierten Ziele möglichst effizient zu erreichen. Diese Rolle wird oft sehr „zahlenlastig“ ausgeführt und vermittelt daher nicht unbedingt Euphorie und Begeisterung. Sie kann jedoch bei gut definierten sowie kommunizierten Zielen auch eine klare Erwartungshaltung vermitteln und darüber zur Orientierung sowie zur emotionalen Sicherheit der Mitarbeitenden beitragen. Man könnte das insgesamt kurz als ZDF – Zahlen, Dakten, Fakten – betiteln.
Beim Leadership reden wir dann eher von ARD – Allgemeines Reden und Diskutieren. Es geht hier darum, etwa durch Visionen oder als Vorbild zu inspirieren. Das Ziel ist es, Menschen emotional mitzureißen. Alternativ festigt sich aktuell immer mehr der Begriff „Purpose“, der Zweck und Antrieb einer Unternehmung umschreibt. Die Rolle des Leaders wird also eher als der emotionale Teil wahrgenommen. Man könnte auch sagen der „Bock-Faktor“.
Es geht also um den tieferen Sinn, für den wir überhaupt zur Arbeit gehen. Wenn ich über Leadership ein Umfeld gestalten kann, in dem die Mitarbeitenden Lust haben, etwas zu bewegen, kann ich dadurch Motivation und Leistung positiv beeinflussen. Hilfreich für eine motivierende Umfeldgestaltung sind Rückmeldungen der Mitarbeitenden zur Wirkungsweise der gestaltenden Maßnahmen. Nur so kann nachgebessert und optimiert werden. Ebenso ist der persönliche Kontakt zu den Mitarbeitenden wichtig, um individuelle Sinnmotive zu erfahren. Diese können im Gespräch besser „eingekreist“ als in einer Abfrage analysiert werden.
Was braucht es denn heute mehr: Führung oder Leadership?
Ich bin der festen Überzeugung, dass es beides braucht. Hoch motiviertes, sinnorientiertes Arbeiten ohne wirtschaftlichen Erfolg kann ebenso wenig nachhaltig überleben wie ökonomisch optimales Handeln ohne jede Begeisterung für die bearbeiteten Themen.
Nehmen wir noch die Zuspitzung durch die aktuelle Lage hinzu, so können wir festhalten: Leadership und Führung in Zeiten von COVID-19 heißt, die Mitarbeitenden trotz der Distanz beim Arbeiten unter Unsicherheit und unter finanziellem sowie emotionalem Druck zu begleiten. Dabei sind Erwartungshaltungen und Zielvereinbarungen zu berücksichtigen. Zudem gilt es, das Arbeitsumfeld sinnstiftend und motivierend zu gestalten.
Du hast eine zentrale Fragestellung schon eingangs formuliert: Was kann getan werden, um die Mitarbeitenden in der aktuellen Situation zu unterstützen?
Ich würde das ganz gerne in zweierlei Weise beantworten. Zum einen kann ich ein paar einfache Führungsmaßnahmen erklären, die genau jetzt ohne großen Aufwand umsetzbar sind. Zum anderen möchte ich ein paar Anregungen geben, inwiefern grundlegende Anpassungen am Führungssystem gerade zu diesem Zeitpunkt sinnvoll sind.
Sehr gerne, René. Starten wir doch mit den Hands-on-Tipps, wenn man das so sagen darf 😊 Wie können Führungskräfte die große Unsicherheit und den finanziellen Druck lindern?
Im Umgang mit Unsicherheiten hilft ein gutes Informationsmanagement. Insbesondere in sehr herausfordernden Zeiten wie diesen sollte ein Unternehmen die Sicherheit und Klarheit bieten, die von den Mitarbeitenden nun gebraucht wird. Hier hilft es, die Informationssequenz zu erhöhen. Dazu gehört, sowohl die Einschätzung der wirtschaftlichen Situation zu erläutern als auch konkret geplante Maßnahmen zu kommunizieren. Das wird den Mitarbeitenden die nötige Entspannung bieten und das entsprechende Vertrauen aufbauen.
Finanziellen Druck zu mindern, liegt meist in der Entscheidungsgewalt der Unternehmensführung und kann von der Führungsriege selbst kaum beeinflusst werden. Eine Führungskraft sollte hier Sprachrohr in viele Richtungen sein, Informationen transparent weiterleiten und gegebenenfalls Mitarbeitende über Hilfsangebote informieren. Das klingt nicht aufregend, hat aber eine essenzielle Wirkung.
Würdest du sagen, dass Führung auf Distanz schwieriger ist? Welche sinnvollen Maßnahmen gibt es, um Distanz zu überbrücken?
Die Führung auf Distanz ist für viele vor allem ungewohnt. Die Zusammenarbeit im gleichen Büro, die Option, Themen auf dem kurzen Dienstweg klären zu können, der spontane Austausch in der Kaffeeküche oder auch mit Kollegen im Meeting „kurz“ die nächsten Schritte zu einem Thema festzulegen ist bzw. war gelebte Gewohnheit für viele von uns.
Hier gilt es, für Teams aktiv herauszufiltern, wie sie sich am besten strukturieren und die Arbeit online für alle sichtbar visualisieren können. Dabei helfen einfache Collaboration-Tools oder ein Kanban-Board. Kernfrage ist dabei immer: Wie groß ist der Mehrwert für uns als Team? Diese offene Arbeitsweise hat zwei spürbare Mehrwerte. Erstens sehen wir in der Übersicht, welche Themen unbearbeitet sind und wo wir unsere Prioritäten setzen sollten. Zweitens ist ersichtlich, wer was erledigt hat. Das gibt ein gutes Gefühl für jedes Thema, das ich abhaken konnte. Zugleich entkräftigt es Vermutungen, dass Kollegen nichts oder zu wenig machen.
Für das Verhältnis zwischen Mitarbeitenden und direkter Führungskraft ist es sehr hilfreich, den vertrauensvollen Austausch gerade jetzt weiter auszubauen. Nicht jeder Mitarbeitende sagt von sich aus offen, was zu Hause passiert und welche positiven wie auch negativen Themen dort im Vordergrund stehen. Das wöchentliche „Eins zu Eins“ – also das direkte Mitarbeitergespräch – bietet die Plattform für einen persönlichen Kontakt und den Ausbau des Vertrauens untereinander. Aber auch die Chance, inhaltliche Prioritäten des Arbeitsalltages anzupassen, um an den wichtigen Themen zu arbeiten. Neben der Abwicklung arbeitsorganisatorischer Aspekte kann hier das Gefühl, allein und isoliert zu agieren, vermieden oder abgebaut werden.
Ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, Führungssysteme sowie gewohnte Standards zu hinterfragen und zu ändern?
Grundsätzlich wissen wir, dass Leadership und Führung die Hauptsysteme sind, wie Mitarbeitende und damit einhergehend Unternehmen gesteuert werden. Ein strukturierter Aufbau eines solchen Systems oder Veränderungen am bestehenden System gehen mit Eingriffen in die Unternehmenskultur einher und erfordern weitreichende Verhaltensänderungen aller betroffenen Personen. Zudem erleben wir derzeit eine Situation, in der Leadership und Führung Außergewöhnliches leisten müssen. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen lautet meine Botschaft: Auf jeden Fall!
Wir haben in den letzten Wochen beobachtet, dass Menschen in Krisenzeiten zusammenrücken – natürlich bildlich gesprochen 😉 – und Veränderungen bereitwillig, einfach und unkonventionell umsetzen. Die Zeit ist also durchaus geeignet für Veränderungen. Trotz Homeschooling, abgespeckter Technik und fehlender Schulungen konnte das Modell „Homeoffice“ in der Regel zügig umgesetzt werden. Es funktioniert inzwischen für viele Unternehmen insgesamt gut und sollte nach der Pandemie nicht auf den Ursprungszustand zurückgefahren werden.
Vielerorts wurde die Diskussion angestoßen, wie wir eigentlich zukünftig den Arbeitsalltag organisieren wollen. Alte Geschäftsmodelle mussten über Bord geworfen werden und neue sind entstanden. Sie funktionieren gut. Dies alles hat natürlich auch Auswirkungen auf Leadership und Führung. Die Zeit ist also auch durchaus geeignet für Veränderungen am Leadership- oder Führungssystem.
Würdest du uns das genauer beschreiben wollen? Wie sollten Unternehmen dabei vorgehen beziehungsweise wie gehst du in deiner Rolle als Berater vor?
Sollen neue Führungskonzepte oder Vorgehen implementiert werden, so muss grundsätzlich das aktuelle Umfeld eines Unternehmens betrachtet werden. Deswegen mache ich mir in meiner Beraterrolle im ersten Schritt einen vielschichtigen Eindruck von der Unternehmenskultur, der Strategie und von den Prozessen. Darüber kann ich ein Verständnis entwickeln, welche Verhaltensweisen von einer Führungskraft und auch von den Mitarbeitenden erwartet werden: Der bewusst aufgesetzte aber auch der ungeschriebene Verhaltenskodex eines Unternehmens. Welche Veränderungsprozesse wie umgesetzt und langfristig implementiert werden sollten, hängt insbesondere von diesem spezifischen Umfeld ab.
Dabei gilt zurzeit mehr denn je, dass Entscheidungen und Maßnahmen glaubhaft so im Unternehmen kommuniziert werden müssen, dass die Ziele (z. B. Motivation zu unterstützen und Sinnstiftung zu geben) möglichst gut erreicht werden. Existieren derzeit noch keine geeigneten Kommunikationsstrukturen und -instrumente, so müssen diese im ersten Schritt vereinbart und aufgebaut werden. Nur so können jetzt Veränderungen erfolgreich bewältigt werden.
Wenn diese doch sehr umfangreiche Bestandsaufnahme erfolgt ist, wie geht es dann weiter?
Dann geht es darum, die Mitarbeitenden zu erreichen und den richtigen Fokus zu setzen. Mitarbeitende möchten nicht nur für den „schnöden Mammon“ zur Arbeit kommen und einfach den eigenen Job machen. Das war vielleicht mal früher so. Heute ist die Erwartungshaltung, mitgestalten zu können und zu verstehen, welcher Mehrwert geleistet wird. Wie Walter Böckmann schon sagte: „Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten!“
Wenn ich Menschen inspiriere, habe ich die Möglichkeit, ihr Eigeninteresse zu fördern und sie in eine eigenverantwortliche Motivation zu bringen. Genau das beginnt im Unternehmen ganz oben und zieht sich durch das gesamte Führungsteam bis zum einzelnen Mitarbeitenden. Wenn wir als Unternehmen den Sinn und Zweck unseres Handelns deutlich machen, dann haben die Mitarbeitenden eine Chance, sich darin wiederzufinden und vor allem eine intrinsische Motivation und ein Commitment aufzubauen.
Zudem braucht es einen klaren Kurs. Viele Mitarbeitende setzen die Priorität darauf, mit hoher Geschwindigkeit möglichst viel abzuarbeiten. Also arbeiten sie daran, möglichst effizient zu sein. Viel wichtiger ist im ersten Schritt aber die Effektivität. Also wie Peter Drucker es sagt, die richtigen Dinge zu erledigen. Zu wissen, was wichtig ist, kann ich aber nur, wenn das Unternehmen einen klaren Fokus setzt. Zum Beispiel: Welche sind unsere Zielkunden, welche sind unsere Fokusprodukte, welche A-Kunden stehen im Vordergrund, welche Veränderungsprojekte treiben wir intern voran etc. Den Fokus zuerst auf die wichtigen Themen zu setzen, ist entscheidend. Das können Mitarbeitende aber nur, wenn diese Vorgabe klar von der Geschäftsführung kommt.
Leider müssen wir an dieser Stelle langsam zum Abschluss kommen. Hättest du zu guter Letzt noch ein Fazit für uns?
Viele Tätigkeiten in unserem Alltag sind unbewusst. Wir kennen sie als Gewohnheit, die wir nicht ständig hinterfragen. Diese Routine hilft uns aber dabei, sehr schnell zu sein. Die Pandemie durchbricht diese Gewohnheitsmuster und zeigt bei vielen Unternehmen auf, dass wir uns verbessern müssen bzw. sollten. Dabei hat jede Führungskraft – vom Geschäftsführer bis zum Teamleiter – Stellschrauben, die sie optimieren kann.
Wenn wir unsere Ergebnisse sichtbar machen und so zeigen, was wir alles bewegen bzw. schon bewegt haben, wenn wir den individuellen Austausch untereinander gezielt ausbauen und an den Punkten arbeiten, die uns weiterbringen, werden wir als Team mehr Freude und Erfolg haben. Wenn ein gesamtes Führungsteam die Ausrichtung anpasst und mit einer deutlichen Vision und klaren strategischen Zielen die Mitarbeitenden führt, geht ein spürbarer Ruck und eine Aufbruchstimmung durch das Unternehmen. Diese kann durch die Pandemie unterstützt werden.
Vielen Dank für deine Anregungen und Impulse, René!
Interviewpartnerin: Tina Schwarze
Titelbild: Unsplash: © David von Diemar
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